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Ein Land läuft Amok

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Beitrag von sigi Sa Okt 03, 2009 8:44 pm

In seinem gewaltigen Roman „Brüder“ erzählt der chinesische Bestsellerautor Yu Hua, wie sein Land sich in den kapitalistischen Rausch stürzt – und mit einem heftigen Kater wieder erwacht.

Schon der Anfang dieses Romans ist eine Schau. Wenn der kleine Li Guang, den alle nur Glatzkopf-Li nennen, sich ins Frauen-Klo schleicht, um einen Blick zu erhaschen auf die eindrucksvollsten Popos des Ortes. Wenn ihm dabei das größtmögliche Glück zuteil wird, nämlich dass ausgerechnet die Stadt-Schönheit Lin Hong den nicht ganz so stillen Ort aufsucht. Und wenn er ihn fast schon sehen kann, ihren legendären Allerwertesten, aber dann doch im letzten Moment herausgezogen wird aus seinem Guck-Loch. Einerseits ist es traurig, denn ähnlich nah wird er diesem Wunder der Natur so schnell nicht wieder kommen. Andererseits aber bleibt ihm auf diese Weise das Schicksal seines Vaters erspart: nämlich beim Spannen das Gleichgewicht zu verlieren und in der Jauchegrube zu ersaufen.

Es ist eine Farce, die Bestsellerautor Yu Hua in seinem neuen Roman „Brüder“ erzählt, die burleske Geschichte zweier Stiefbrüder im modernen China. Sie beginnt im Witz, aber sie endet schrecklich. Die Kulturrevolution bricht über das kleine Städtchen in der Nähe Schanghais herein. Der Vater von Li Guangs Stiefbruder Song Gang wird als Grundbesitzer denunziert und tot geprügelt, die Mutter zerbricht an ihrer Trauer. Witz und Schalk der Geschichte der beiden Jungen prallen auf die Trostlosigkeit und Gewalttätigkeit dieser Schreckenszeit. Ein Kontrast, der kaum zum Aushalten ist.

Alles wendet sich, als China sich öffnet. Als mit dem Ende der Kulturrevolution der wirtschaftliche Wandel einsetzt. Jetzt geht die Lebensgeschichte der beiden Brüder auseinander. Glatzkopf-Li wird zum Wirtschaftsmächtigen, inklusive goldenem Klosett, Chauffeur und allerhand sexueller Exzesse. Sein Bruder Song Gang rutscht ab ins Elend. Er verdingt sich als Hilfsarbeiter und ruiniert seine Gesundheit. Am Ende verkauft er ein Gel, das angeblich die Brust vergrößern soll und lässt sich, um den Absatz anzukurbeln, selber Brüste anoperieren.

Yu Hua, der zu den unumstrittenen Literaten-Stars des Landes gehört, erzählt vom Rückfall ins Mittelalter während der Kulturrevolution, vom Rausch des Kapitalismus und vom Kater danach – durchaus gewagt im heutigen China. „Ich denke, dass die Zeit, die ich erlebt habe, tatsächlich eine sehr verrückte Zeit gewesen ist“, sagt er im Interview. „Der Furor der Kulturrevolution ist im Westen ja schon hinlänglich bekannt. Aber vielleicht noch nicht so bekannt ist der Furor, den ich sehe in diesem rasanten Wirtschaftswachstum, das wir in den vergangenen Jahren erfahren haben. Mein Land ist von einem Extrem ins andere gefallen. Wie auf einer Schaukel ging es zunächst tief hinunter, danach umso höher hinauf.“

Und manche sind bei dieser Höllenfahrt auf der Strecke geblieben, wie Song Gang im Roman: „Das rasante Wachstum hat die Psyche vieler Menschen zerrüttet, die man jetzt verwahrlost am Straßenrand sehen kann“, meint Yu Hua. Er beschreibt das Prekäre am chinesischen Wirtschaftsboom, den ungeheuren Unterschied zwischen Wendegewinnern und –verlieren, zwischen arm und reich. Yu sieht sein Land am Scheideweg, für die Zukunft ist er nicht sehr optimistisch: „Ich denke, mit den Olympischen Spielen haben wir den Zenit der Wirtschaftsentwicklung erreicht. Dann kam die Krise. Jetzt stürzen wir ab!“ Dass China gestärkt aus der internationalen Wirtschaftsmisere hervorgehen könnte, glaubt er nicht.

Insofern ist „Brüder“ bei allem Witz, bei aller derben Komik ein tief-trauriges Buch, das zeigt, wie ein ganzes Land Amok läuft. Dass es bis zum Rand voll gestopft mit Schmähungen die strenge Zensur in China passieren konnte, erstaunt Yu selbst. „Es ist ein Balanceakt“, sagt er. „Ich wandele auf einem schmalen Grat. Bisher hat mich die Regierung nicht hinuntergestoßen, bisher habe ich Glück gehabt. Aber es muss nicht immer so weitergehen.“ Von FOCUS-Redakteur Jobst-Ulrich Brand www.focus.de
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