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Camorrista“ Flucht ins Herz der Finsternis

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Beitrag von sigi Di Dez 29, 2009 10:10 pm

Giampaolo Simi, hierzulande noch kaum bekannt, ist die Entdeckung des Jahres: Er schreibt warmherzig, atmosphärisch und zugleich voll tragischer Wucht.


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Giampaolo Simi, Camorrista (übersetzt von Ulrich Hartmann), C. Bertelsmann, 352 Seiten, 19,95 Euro

Rosa hat Philosophie studiert, doch ihre Arbeit über Augustinus nie beendet. Stattdessen hat sie bei der Polizei angeheuert, um endlich Geld zu verdienen. Sie ist 30, hat bislang nur Bagatelldelikte bearbeitet, doch nun bekommt sie einen Geheimauftrag, bei dem sie vielleicht Karrierepunkte sammeln kann: die kurzzeitige Bewachung eines aussagewilligen Camorra-Mitglieds in einem abgeschiedenen toskanischen Kloster, das zugleich als Drogentherapiezentrum dient. Sie hat sich nicht nach dem Job gedrängt, denn sie weiß, dass der kleinste Fehler fatal sein kann.

Daniele Mastronero, genannt Cociss (nach dem Apachenhäuptling Cochise), war vor seiner Festnahme Capozona, also Mafia-Verantwortlicher für einen ganzen Straßenzug im Unterschichtenghetto Neapels. Er ist 18, Sohn einer Drogensüchtigen und Analphabet, aber schlau. Bevor Rosa ihn kennenlernt, gibt ihr der Polizeipsychologe aus Rom eine Beschreibung: „Mastronero ist ein ausgesprochen asozialer Charakter mit paranoiden Zügen.“ Außerdem kokainabhängig.

Cociss im Therapiezentrum, ein spätpubertierende Kotzbrocken, gibt sich verstockt, will sich nicht unterordnen. Mehrmals muss Rosa ihn zur Räson rufen. Sie versucht es mit polizeilicher Autorität, die sie jedoch selbst noch üben muss. Cociss folgt ihr nur, weil er einen Deal mit ihrem obersten Chef D’Intro geschlossen hat: Der ehemalige Capozona hat eine lange Reihe von Mafia-Gangstern verraten, dafür wurde ihm Zeugenschutz versprochen, eine neue Existenz.

Die überforderte Polizistin und ihr unberechenbarer Schützling – Giampaolo Simi hat da ein wunderbares Gegensatzpaar geschaffen. Die Spannung entsteht fast von selbst, und Simi verdichtet sie durch feine, atmosphärische Schilderungen von Orten und Personal. Er kann es sich leisten, sich mit der Zuspitzung Zeit zu lassen, die ohnehin von Beginn an zu drohen scheint. Um so klarer werden die Protagonisten: die Ich-Erzählerin Rosa, die von ihrem ganzen Wesen eher noch Studentin eines Orchideenfachs ist als Polizeibeamtin, und der junge Camorrista, der eine höchst vage Zukunft vor sich hat und ahnt, dass ihm etwas von Rosas Bildung helfen könnte, zumindest die Fähigkeit des Lesens und Schreibens.

Doch bald fühlt sich Cociss in seinem Versteck bedroht. Ist es nur die übliche Paranoia? Als Rosa ihren Schutzbefohlenen an Kollegen übergeben soll, wittert sie selbst einen Hinterhalt der Mafia, macht kehrt und taucht mit Cociss unter. Sie nimmt Kontakt mit ihrem Chef D’Intro auf. Er will wissen, wo sie Cociss versteckt hält, denn Cociss wollte ihm noch die Identität des Bosses des Mafia-Clans nennen. Doch Rosa fürchtet, dass Cociss die Auslieferung nicht überleben würde, denn irgendwo im Polizeiapparat muss es einen Maulwurf geben. Um sie weichzukochen, erzählt D’Intro, Cociss habe als Capozona in Neapel einen Mord begangen – neben einem verfeindeten Gangster seien dabei von ihm zwei unbeteiligte Schulmädchen getötet worden.

D’Intro gibt Rosa Geld und verspricht ihr falsche Papiere für Cociss, damit sie und der junge Mann auf eigene Faust den ominösen Mafiaboss aufspüren können, notfalls im Ausland. Nach der Übergabe der Papiere geraten Rosa und Cociss jedoch unvermutet in eine Polizeikontrolle. Cociss schnappt sich Rosas Waffe und erschießt die Uniformierten – ein Paukenschlag, und nun ist klar, dass Rosa keinem mehr trauen kann.

Denn die Toten waren keine echten Polizisten. Wie weit reicht die Macht der Mafia? Gehört gar D’Intro zu ihren Helfern? Und ist Cociss womöglich wirklich der eiskalte Killer, der sogar kleine Mädchen tötet? Die weitere Reise geht über München, Bremen und Hamburg bis nach Schottland. Eine Flucht und eine Jagd zugleich, denn Cociss will Rosa nun erst recht zu dem geheimnisvollen Clanchef führen, den seit Jahrzehnten kein Fahnder zu Gesicht bekommen hat. Oder ist alles nur eine Finte des jungen Ex-Capozona, der Rosa in Wirklichkeit für ganz andere Ziele benutzt? Während die Umstände die beiden Flüchtigen zusammenschweißen, wachsen zugleich Rosas Zweifel.

Der Roman hat auch stille und komische Momente. Als während einer Verschnaufpause Cociss die Polizistin nach ihrem Studium ausfragt und sie den Kirchenvater Augustinus erwähnt, der in Nordafrika lebte, nimmt Cociss an, Rosa sei mit einem Marokkaner dieses Namens liiert gewesen – skandalös für den rassistischen Cociss. Natürlich spielt Giampaolo Simi mit der latenten Chance einer Liebesgeschichte zwischen Rosa und ihrem jungen Schützling, doch wo fantasielosere Autoren die beiden ins Bett schicken würden, fällt Simi eine weitere, hochdramatische Wendung ein, die Rosa von Cociss trennt, sie desillusioniert und trotzdem erst recht ihm hinterherjagen lässt.
Zum fulminanten, abgrundbösen Schluss haben wir nicht nur gelernt, wie junge Camorristi ticken und dass die Mafia ein Krake ist, die auch die Polizei infiltriert. Nein, das organisierte Verbrechen ist ein System, das sich die Gesellschaft fast einverleibt hat, nicht nur in Italien, sondern international. Sogar das Scheitern von Rosas Vater und die Karriere ihres Bruders erscheinen in ganz anderem Licht. Wo Gut und Böse sich aufeinander einlassen, werden sie ununterscheidbar. Nicht einmal im Privaten gibt es ein Entrinnen. Von FOCUS-Online-Autor Horst Eckertwww.focus.de
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